Bessarabischer Weg 4b

Hat sich ja nicht so viel geändert, nur das b hinter eurer Hausnummer, was, Lina?, hat Frau Walther neulich zu ihr gesagt. Sie hatten sich fast vierzig Jahre nicht gesehen. Nur das b, wiederholt sie zum unzähligsten Mal, steigt in ihren Wagen und fährt los. Rauf an die Küste.

Das Autofahren lässt sie sich nicht nehmen, auch wenn sie sich nicht mehr alleine zu den Kindern in die Stadt traut. Einmal die Hauptstraße runter, hier im Dorf, zum Einkaufen, ist kein Problem. Jetzt, mitten in der Nacht, wird die Autobahn sicherlich frei sein. Noch einmal das Hotel sehen, in dem sie damals die Flitterwochen verbracht haben. Im Juni 1951 ist das gewesen. Mit dem ersten eigenen Auto sind sie angereist. Damals hat man noch alles zum ersten Mal gemacht, stellt sie fest und fährt vorsichtig auf die Autobahn. Seit einer Weile macht sie alles, was sie macht, zum vielleicht letzten Mal. Das letzte Mal allerdings, dass sie etwas zum ersten Mal gemacht hat, war vor einem halben Jahr, als sie ihren Mann unter die Erde gebracht hat. Das war neu.

Wollen wir das Tanzbein schwingen, schöne Frau?, war der erste Satz, den er zu ihr auf dem Dorfvergnügen gesagt hat. Da war es schon spät, bestimmt schon nach zehn. Die Krawatte hing ihm locker um den Hals, das Hemd aus der Hose gerutscht, die oberen drei Knöpfe aufgeknöpft, ein Rotweinfleck am Kragen und die Blicke aller Mädchen lagen auf ihm. Er strahlte eine Zuversicht aus, die in jenen Jahren selten war. Er hatte grobe Hände und weiche Lippen und den unbeirrbaren Willen, es zu etwas zu bringen. Wenig später schon schuftete er nicht mehr selbst auf dem Bau, sondern ließ andere für sich arbeiten. Der Bürgermeister wurde einer seiner vielen Duzfreunde, und wohin bloß mit dem ganzen Geld?

Erst einen Sohn, dann eine Tochter und eine Ferienwohnung in Portugal. Kannst du im Büro helfen, Lina? Und ein Geschäftsessen nach dem nächsten. Und noch ein Gläschen Wein? Und einen zweiten Stock auf das Bürogebäude und ein paar mehr Maschinen. Die Kinder sind gut in der Schule, oder, Lina? Der Sohn macht erst seine Lehre und steigt dann ins Geschäft mit ein und die Tochter kann ja erst mal studieren. Noch ein Gläschen Wein? Und der Herr Soundso will sich umsonst was ausleihen. Brauchen wir wirklich so viele Mitarbeiter im Winter? Wir entlassen erst mal die teure Sekretärin, Lina. Und noch ein Gläschen Wein? Und den ersten Herzanfall mit Anfang fünfzig. Und haben wir noch Geld, um die Ferienwohnung im Schwarzwald zu halten? Noch eine Kur, und noch ein Gläschen Wein? Und der Herr Soundso schon wieder. Lass uns doch die zehn zuletzt eingestellten Leute entlassen, und brauchen wir wirklich fünf LKWs? Und gehts den Enkelkindern gut, Lina? Dieses Jahr fahren wir mal nicht in den Urlaub. Den zweiten Herzanfall mit Mitte sechzig, und noch ein Gläschen Wein? Und noch mehr Medikamente? Und auf einmal kommt kaum noch jemand zu den Geburtstagen, nicht mal der Herr Soundso. Und warum heißt der Offenbarungseid jetzt eigentlich Eidesstattliche Erklärung? Und noch ein Gläschen Wein?


Sie steigt aus dem Auto, streckt sich und reibt sich die Augen. Der Seewind ist angenehm kühl. Bald wird die Sonne aufgehen. Sie blickt den Kiesweg hinauf und erkennt undeutlich die Konturen des Hotels. Es liegt noch immer abseits der Ortschaft, aber näher als früher. Und dann ist sie wieder in Zimmer 356. Dort in der Ecke war damals ein Kleiderschrank, aus hellem Holz, in den sie ihre Sommerkleider gehängt hat. Auf einem Beistelltischchen, in einer Kristallvase, stand ein Strauß mit weißen Lilien, Chrysanthemen, Schleierkraut und viel Grün. Daneben hing ein Spiegel, in dem sie damals jung war. Drüben an der Wand schließlich stand das Bett, mit lindgrünen Laken bezogen, die Wäsche mit feinen Nähten und ganz weich.

Ficken!, haben irgendwelche Halbstarken an die Wand gesprüht. Hier und da hängen noch ein paar Tapetenreste, Kabel ragen aus der Wand und den Teppich hat sich wohl irgendjemand unter den Nagel gerissen. Warum auch nicht, denkt sie. Was wir in der schlechten Zeit an Kohlen geklaut haben. Wind weht durch gesplitterte Scheiben, und die Tür des gegenüberliegenden Zimmers schwingt leise quietschend auf und zu. Seit wann das Hotel wohl leer steht, überlegt sie und tritt ans Fenster. Damals war das Meer nicht so nah am Hotel. Aber es frisst sich heran. Frisst einfach. Und nachdem sie bei ihm Krebs diagnostiziert hatten, hat sie ihn das erste Mal weinen sehen. Als die Maschinen verkauft waren, waren auch bald die Häuser und die Grundstücke verkauft und auch der Hof für die Maschinen. Der zweite Stock des Büros wurde vom neuen Besitzer zu einer Dreizimmerwohnung umgebaut, in der sie günstig leben konnten. Nur fünfzig Meter von ihrem alten Haus entfernt, in das der neue Eigentümer einzog.

Lass uns beim Hof bleiben, Lina, ja?

Sie wird müde, als das erste Licht langsam vom Horizont her ins Hotel kriecht. Sie stellt ihre Tasche ab, setzt sich, lehnt sich an die Wand und packt das Butterbrot aus, das sie sich mitgenommen hat, den Saft und den Plastikbecher. Oben in der Ecke des Zimmers entdeckt sie ein Schwalbennest. Die Sonne steigt über die Wellen, und es ist warmes Licht, das selbst die kargen Ecken der Hotelruine zum Leuchten bringt.

Hätte sie geahnt, dass er die letzten zwei Jahre vom Krebs zerfressen im Krankenhaus liegen würde, sie wäre wohl nicht bereit gewesen, ins alte Büro zu ziehen. Vor einer Weile hat sie noch Rechnungen abgeheftet und archiviert, wo sie nun ihre Wäsche zum Trocknen aufhängt, Kreuzworträtsel löst und Fotos ansieht.

Bessarabischer Weg 4b. Hat sich ja nicht so viel geändert, denkt sie, nur das b hinter der Hausnummer.

Es wird ein schöner Tag werden. Vielleicht geht sie gleich noch mal runter, um den Baum mit dem Herz zu suchen. Und Hauptsache, den Kindern geht‘s gut.

Dieser Text stammt von meiner Hörbuch CD lieber woanders (zeter & mordio)