Die Was Passiert Dann-Maschine

Eine tiefe Novembersonne überzieht die Vorstadt mit einer Patina billiger Melancholie und Langsamkeit, der ich mich beim besten Willen nicht entziehen kann. Jugendliche lehnen an einer Bushaltestelle, rauchen und sprechen über Dinge, über die man eben spricht, wenn man sich als Jugendlicher an eine Bushaltestelle lehnt und raucht. Nachmittägliches Rumlungern. Das Ankommen und Abfahren der Busse beobachtend. Ferne erahnend. Krähen ziehen die letzten Runden des Tages. Niemals habe ich Krähen bei Nacht gesehen, und so werden sie wohl auch heute eins werden mit der Dämmerung, um bei Tagesanbruch aus den unbestellten Äckern zu wachsen. Dort, wo vor wenigen Jahren noch Äcker waren, entstehen nun Neubaugebiete, in denen Menschen leben, die ihren Kindern Namen geben, für die man zu deiner Zeit verprügelt worden wäre. Und das Neubaugebiet deiner Kindheit ist ein hässliches 70er-Jahre-Loch.

Mit einem Mal stehe ich vor eurem alten Haus, eurem Garten, in dem wir als dumme Jungs Streusalz über Schnecken gekippt und einige Jahre später Sangria hinter die Tannen gekotzt haben. Ich schaue hoch zu deinem Fenster und weiß, dass in den Räumen deiner Kindheit jetzt Fremde leben.

Du wolltest immer fort von hier. Wohin auch immer. Ich weiß noch, wie wir damals in deinem Wagen vor der Dorfdisco saßen, der Regen auf die Scheiben prasselte und im Radio einer dieser Songs lief, bei denen man die ganze Zeit darauf wartet, dass er endlich richtig losgeht, bis er plötzlich vorbei ist.

»Genau wie mein Leben«, hast du gesagt und es klang wie eine Prophezeiung. Du hast von Momenten gesprochen, wenn es still ist in der Welt außerhalb deines Kopfes. Wenn das einzig hörbare Geräusch das gleichmäßige Knirschen des Mondes an der ersten Himmelssphäre entlang ist, die ihn in manchen Nächten nur milchig schimmern lässt. Jene Nächte, in denen die Gravitation besonders stark ist. Wenn man dasitzt und sich wünscht, noch einmal im Kirschbaum zu klettern, das Harz von der Rinde zu kratzen, um es aufzubewahren, bis es zu Bernstein geworden ist. Noch einmal klein sein, Zeit haben.

Ich kannte diese Nächte auch damals schon, aber ich schwieg, wie ich meistens geschwiegen habe, wenn du mir etwas erzählt hast. Es gibt sie noch immer, diese Momente, in denen nur das Nachtprogramm Zerstreuung bringen kann.


Ein Bus fährt vor, fährt weiter und verschwindet. Laub kräuselt sich um Stehtische, zurückgelassen vor leer stehenden italienischen Bistros, und hinter den Häusern dort drüben scheint die Welt zu Ende. Und nur die Mutigen ziehen in die nächstgelegene Stadt, und die Tollkühnen vielleicht sogar von dort aus weiter nach Berlin, und die Lebensmüden ziehen los gen London und New York, um nach ihrer Heimkehr Kurzprosasammlungen mit Titeln wie
Letzten Endes doch wieder ich zu veröffentlichen. Gibt es nicht ein Gefühl von Geborgenheit, zu wissen, dass sich früher oder später auch die letzte hohle Phrase bewahrheiten wird? Kinder, was die Zeit vergeht‹ oder Du kannst nicht vor dir selbst weglaufen‹. Aber ich glaube, das ist uns beiden schon damals klar gewesen.

Damals, als die Was-Passiert-Dann-Maschine‹ noch auf Hochtouren lief. Als man noch glaubte, dass auf die Jugend ganz natürlich das Erwachsensein folgt. Aber der Erwachsene an sich ist eine selten werdende Spezies. Dominierend sind die groß gewordenen Kinder, die Erwachsensein spielen und sich permanent darüber wundern, dass ihre Unterschriften Konsequenzen haben. Ich weiß noch, wie wir überlegt haben, wie sich Erwachsensein wohl anfühlt. Vielleicht wie der Moment einer Schrecksekunde, ausgedehnt auf fünf Tage die Woche, bis ab Freitag wieder auf geborgter Energie durchgetanzt wird, als gebe es keinen Montag. Ich weiß, dass du das kennst. Zwischen Klosprüchen die letzte Weisheit vermutend. Ein Wochenende, an das man sich erinnern kann, wird kein gutes Wochenende gewesen sein. Der Filmriss als ultimatives Freiheitserlebnis. Selbst geschaffene Leere macht keine Angst. Als versuchte man, die eine Leere in der anderen verschwinden zu lassen.


Ich erinnere mich noch an unser letztes zufälliges Treffen, als wir uns früh morgens im Kneipenviertel einer fremden Stadt über den Weg gelaufen sind. Die gemeinsamen Stunden auf einer Parkbank. Die Benommenheit der Nacht hinter uns lassend. Erinnerungsvergleich:
Ich weiß noch was, was du nicht weißt.‹

Du hast von sinnlosen Berührungen erzählt, die sich doch so echt anfühlen. Ich weiß. Es schmeckt nach echter Haut, hinter der wirkliches Fleisch ist, voller Blut. Jedes Mal. Und es spielt keine Rolle, wessen Mund es ist, der sich öffnet, während man nach Alkohol stinkend die Leere des anderen einatmet. Anschließend stehen sie halbnackt am Fenster, eines deiner Hemden übergestreift, rauchen eine Zigarette und schauen in irgendeine Nacht. Dann das Streicheln, als liebte man sich auch mit dem Herzen, weil das so schön ist und Sinn erahnen lässt. Wenn man sich am folgenden Morgen Stunde um Stunde verliert wie den Zigarettenqualm des Vortages, der aus der Lunge kriecht, während man schon an die nächste Schachtel denkt, schuldet man sich nichts außer einigen Atemzügen. Ich habe verstanden, wovon du dort auf der Bank gesprochen hast, aber ich habe mich nie getraut, es so nüchtern zu betrachten. So kalt. Ich habe mich selten getraut, die Dinge so zu sehen, wie du sie siehst, daher habe ich es nicht als Verlust empfunden, dich von Jahr zu Jahr seltener zu sehen, obwohl wir vor einer Weile so viel Zeit miteinander verbracht haben.


Jetzt gehe ich unsere alten Straßen entlang, ein Bus gibt den Blick auf die Haltestelle frei, und plötzlich stehst du vor mir. Längst vergessene Gespräche kommen mir in den Sinn. Zum Beispiel die
To-Do‹-Liste deines Lebens, von der du früher pausenlos erzählt hast. Es an einem Sonntagmorgen im August, in einem billigen Hotelzimmer in New Orleans mit einer Blondine treiben. Gewinner einer gigantischen Tortenschlacht sein. Einen Roman mit exakt dreihundertsechsundsechzig Seiten schreiben, der mit dem Satz beginnt: Mit Johanna zu schlafen war wie über Neuschnee zu laufen.‹ Klären, wer die Konfettiparade organisieren wird, die du dir zu deiner Beerdigung wünschst. Und über allem die Frage, womit du diese Leere füllen könntest.

Wie du jetzt vor mir stehst. Noch immer mit dieser unbestimmten Sehnsucht in deinen Augen und einer abwartend fragenden Haltung von den Schultern bis zu den Knien. Mehr noch als früher wirkst du wie ein Fremdkörper in dieser Umgebung, wusstest aber auch nie, wohin du gehörst.

»Das haben wir gemeinsam«, unterbrichst du meinen Gedanken. Unterwegs sein, ja. Denn bis wir irgendwo ankommen, sind wir lieber woanders.

»Ich scheine Dich nicht loszuwerden, hm? Willst ‘ne Kippe?«, frage ich und die Frau von der Pommesbude schaut skeptisch zu mir herüber, wie ich an die menschenleere Bushaltestelle gelehnt vor mich hinbrabbele und eine Zigarette in die Luft strecke.


»Etwas fehlt«, flüstere ich und finde dann folgende Zeilen, scheinbar beiläufig an die Wand geschmiert: Du hast den falschen Ansatz. Solange du nur versuchst, eine Leere zu füllen, wird es nie mehr sein als eine gefüllte Leere. 

Dieser Text stammt von meiner Hörbuch CD lieber woanders (zeter & mordio)