Filippos Flüstern

»Dorthin an die Naht möchte ich«, sagte Filippo und deutete zum Horizont. »Wo Gott den Himmel an das Meer genäht hat, sie auftrennen, hindurchschlüpfen und alles was hier ist, hier lassen.«

Die übrigen Fischer lachten ihn aus. Tagein tagaus erzählte er es. Nur die Kinder reckten sich, kletterten auf die Felsen und spähten mit großen Augen auf das Meer.

»Da!«, riefen manche. »Da schlüpft die Sonne gerade hindurch, da muss die Naht sein!«

Und die Alten lachten, und die älteren Kinder lachten auch.

Doch eines Tages kehrte Filippo nicht heim, und die Fischer warteten lange am Strand , ob er noch käme. Aber sie warteten vergebens. Schließlich sagte einer: »Er muss wohl ein Stück der Naht aufgetrennt haben.«

Allen war es unheimlich. Und die älteren Kinder lehnten sich schweigend an ihre Väter.

»Nein!«, sagte der größte der Männer. »Er wird in ein Unwetter geraten sein.«

Aber es hatte seit Wochen kein Unwetter gegeben.

Und der eine sagte: »Wo er auch ist, er ist nicht mehr bei uns.«

»Verteilt auf viele Fische wird er sein«, lachte der Größte.

Aber der eine sprach weiter: »Vielleicht kann ich auch hindurchschlüpfen.« Seine Freunde schmunzelten, und die nicht seine Freunde waren lachten, und die mit denen er im Streit lag spotteten.

»Was lacht ihr?«, fragte der eine. »Was wisst ihr mehr als ich, dass ihr Grund zum Lachen hättet?«

»Nichts«, sagte der Größte dann. »Nicht mehr als unseren Verstand haben wir dir voraus. Wir sind Fischer, und fangen Fische, und bitten die Schutzheiligen um gutes Wetter.« Alle küssten die Kreuze an ihren Ketten. »Wir haben Mäuler zu stopfen, und zwar diesseits der Naht.«

Noch während der Größte redete, schob der eine sein Boot in die Abendwellen. »Kommt! Wer kommt mit mir?«, fragte er, doch niemand sagte auch nur ein Wort.

»Freunde«, baute sich der Größte vor ihnen auf. »Filippo, der Narr, ist fort, aber wir sind noch hier. Die Naht hab ich in all meinen Jahren als Fischer noch nie gesehen, nie!« Alle nickten stumm. »Gewiss wär’s schön, wenn wir hindurch in ein anderes Leben schlüpfen könnten, wo die Arbeit nicht so schwer und die Früchte etwas süßer wären.« Damit wandte er sich an den einen, der schon einige Züge gerudert war: »Wer will schon mühevoll das Ungewisse suchen, wenn was er hat noch zu ertragen ist?!«

»Ich kann nicht länger warten!«, rief der eine zurück. »Die Naht ist nur so weit, wie wir sie wähnen.« Mit kräftigen Zügen entfernte er sich vom Strand.

Manche lachten, viele schwiegen.

»Kommt«, sagte der Größt. »Morgen müssen wir früh auf, Fische fangen, Geld verdienen, Frau und Kind ernähren. Und abends dann der Wein. Kommt.«

Langsam gingen sie heim. Aus der Ferne hörten sie noch die Ruderschläge des einen. Und auch der eine kehrte nicht zurück.

Wenn die Fischer mit leeren Netzen an den Strand heimkehren oder im salzigen Wind auf Fang warten, schaut sich so mancher heimlich um, ob er nicht irgendwo die Naht erblickt. Mitunter flüstert der Wind ihnen ins Ohr, loszurudern, denn jedem, der sie zu erreichen sucht, gelingt es. Jedem, der sie aufzutrennen versucht, gelingt es ebenfalls. Und jeder, der hindurchsteigt, kehrt zurück, als Flüstern im Seewind, um den anderen, den Weg zu weisen.

»Hirngespinste!«, rufen die Fischer oft, wenn der Wind zu stark weht. Und der Stärkste beginnt, so laut mit sich selbst zu reden, bis er das Flüstern nicht mehr hören kann. Denn er hört es am deutlichsten. Erzählen die anderen abends davon, schweigt er, und wenn sein Kind fragt, wo Filippo ist, schlägt er es.

Aber Filippos Flüstern liebt Kinderohren. 

Dieser Text stammt von meiner Hörbuch CD lieber woanders (zeter & mordio)