Es war im Rahmen eines Umzugs, als ich nicht länger umhin kam, einzusehen, dass wir in einer Welt der Doppelmoral leben, und dass ich die Tatsache, Freunde und Bekannte zu haben, ganz fürchterlich finde. Nicht minder fürchterlich finde ich die Formulierung Da schwillt mir der Kamm, aber es gibt gewisse Fragen, bei denen mir der Kamm mit schöner Regelmäßigkeit in der Tat anschwillt.
Ein Beispiel: Was machste denn an dem und dem Samstag so vormittags? In 95 Prozent aller Fälle ist das eine rethorische Frage. Eine der Antworten, die ich geben könnte, lautet: Sturztrunken mit irgendeiner Frau nach hause kommen, anschließend Kondome entsorgen, mich schmutzig fühlen, eine rituelle Waschung durchführen, nicht einschlafen können, die Göttliche Komödie als Hörbuch anmachen, eindösen, im sechsten Höllenkreis erwachen, mich schweißgebadet vor die Glotze schleppen, das Privatfernsehen hassen und, ey, das hat voll nix mit Drogendepression zu tun, wenn ich heule, sobald irgendein Spacken aus dem Allgäu seiner Ollen ein Lied singt!, und schließlich den Beginn einer neuen Arbeitswoche erwarten. Und? Was machst du so an dem und dem Samstagvormittag? Umziehen?! Ach, guck an!
Jene Antwort gebe ich natürlich nicht. Stattdessen lasse ich mir erklären, dass ein Umzug ansteht, sage mit freundlicher Widerwilligkeit zu, und erwarte die obligatorische Folgelüge: Is’ auch echt nicht viel!, sowie die anschließend scheinbar beiläufig gestellte Frage: Hier, und hast du nicht auch ’n Auto, sag mal? Satzbau Fünf minus, aber auch hier lautet meine Antwort Ja, bevor diese Simulation eines Gesprächs ihr Ende mit folgender Abschlussphrase findet: Ich lade dich dann demnächst mal zum Essen ein, vielleicht asiatisch oder so, und dann …
Quatsch mich nicht voll, ey! Behalt deine Fertigfutter-Süß-Sauer-Giftmischungen für dich, und sorg einfach dafür, dass ich nicht noch die Hälfte deiner erbärmlichen Habseligkeiten zusammenpacken muss, du Flachpfeife. Eben dies sind dann die seltenen, aber von mir hochgeschätzten Momente, in denen ich mit frischgeschwollenem Kamm denke: Arschlecken dreifuffzich, Alter!
Kommen wir zum Samstagmorgen des eingangs erwähnten Umzugs. Einen massiven Ledersessel auf meinen Schultern durch das Treppenhaus balancierend sinnierte ich darüber, wieviel mal Ameisen ihr eigenes Gewicht tragen können, was das in Bezug auf Elefanten bedeutet, und weshalb ich nicht einfach eine Magenverstimmung vorgeschoben hatte, als folgende Worte an mein Ohr drangen.
„Na? So sieht man dich ja selten.“
Der hölzerne Boden des Sessels fraß sich in meine Hand. Ich hob meinen Blick von den Stufen. Ein Gefühl blanken Hasses durchflutete mich und gab meinem adulten, jedoch immer noch jugendlich anmutenden Körper neue Energien. Jeder Muskel war zum Zerreißen gespannt. Ich fühlte mich stark, spürte das Blut in meinen Schläfen pulsieren, Schweiß lief beißend in meine Augen, aber ich hielt sie geöffnet und blieb in meinem Schmerz, bis er mir schier übermenschliche Kräfte verlieh. Die ganze Welt hätte heute umziehen können, ich hätte sie geschultert. Ich war Atlas! Ich hatte die Macht, sie zu tragen und auch, sie zu zerstören! Bedecke deinen Himmel, Zeus, mit Wolkendunst, und übe dich dem Knaben gleich, der Disteln köpft, an Eichen dich und Bergeshöh’n!, durchzuckte es mich, bevor ich schließlich dachte: Wie genau sieht man mich selten? Einen viel zu schweren Sessel, durch ein viel zu enges Treppenhaus schleppend? Mich über das Gefasel einer viel zu abgemeldeten Ex-Affäre meines besten Kumpels aufregend? Oder wie? So arbeitend, während alle Welt rumsteht und Schrott von sich gibt wie: Nee, ist nicht schwer, ist nur unhandlich! Und was wirst du als nächstes machen? Die Sofakissen stapeln?
All das dachte ich innerhalb von Sekundenbruchteilen. Schließlich sagte ich, betont ruhig, aber mit ins unermessliche geschwollenem Kamm: „Hier im Treppenhaus nervt gerade jemand, und ich bin es nicht.“
„Willste durch?“
Durch? Nein. Nein, ich würde gerne wissen was passiert, wenn ich einen Angelhaken in dein rechtes Auge puhle, dachte ich, hörte mich aber sagen: „Wußtest du, dass Eskimokinder die Augen von frischgefangenen Fischen naschen?“
„Was? Wieso denn jetzt Eskimos?“
„Man sagt Innuit, du rassistische Herrenmenschin.“
„Hä? Was jetzt?!“
Und wie sie so schwachsinnierend vor mir stand, fiel mir prompt das Märchen der kleinen Rosemarie ein.
Die kleine Rosemarie lebte mit ihren Eltern und zwei lustigen Zöpfen in einem idyllisch gelegenen Häuschen am Viertaler Weg und stank aus dem Maul ebenso sehr nach Zwiebeln, wie nach totem Tier aus dem Arsch. Im Alter von fünf Jahren hatte sie, infolge eines traumatischen Erlebnisses, auf das ich noch zu sprechen kommen werde, beschlossen, sich ausschließlich von Mettbrötchen und wieder und wieder Mettbrötchen zu ernähren. Wenn ihre Eltern versuchten, ihr Interesse für andere spannende Lebensmittel zu wecken, antwortete Rosemarie nur: Nein, nein, nein! Ich ess nur Mett! Nur Mett. Sonst ess ich nichts!
Der regelmäßige Verzehr rohen Fleisches wirkte sich jedoch nicht nur auf ihren Körpergeruch aus. Aufgrund der enormen Menge Fleisch und Brötchen, die sie vertilgte, nahm sie stetig an Körperfülle zu. So wurde sie, man ahnt es schon, Opfer von Hohn und Spott gleichaltriger Spitzbuben, und alle Welt rief sie bald nicht länger Rosemarie, sondern nur noch Rohemarie.
„Hey, riecht mal! Da kommt die Rohemarie!“, brüllten die Jungs, wenn Rosemarie mit einem armvoll Hackepeter um die Ecke bog und ab und an ihren Mittelfinger in den noch schlachtwarmen Brotaufstrich steckte, um zu naschen.
Doch Rosemarie hatte kein Ohr für solchen Spott; Rosemarie hatte eine Mission. Das eingangs erwähnte prägende Erlebnis widerfuhr ihr im Rahmen des Umzugs, in besagtes Häuschen. Ihr Kätzchen, Muschi, spielte ausgelassen mit einem Wollknäuel, als Rosemaries Vater das TV-Gerät aus den Händen glitt. Dann schien die Zeit still zu stehen. Rosemaries aufgerissene Augen. Ein stummer Schrei ihrer Mutter, der so viel mehr Leid zu unterdrücken schien, als das in jenem Moment empfundene. Der kalte Schweiß auf dem Rücken ihres Vaters, als der nigelnagelneue Breitbild-Fernseher auf das anschließend weit weniger possierliche Tier hinabraste. Und in das stumme Schlucken der Schrecksekunde, brabbelte einer der professionellen Möbelpacker kauend: Tjaja, nur Pudding inne Arme, der Schlaffmeier!, während er sich den Rest eines Mettbrötchens in den Hals schob.
Nie wieder sollte in ihrer Gegenwart ein Kätzchen sterben, schwor sich Rosemarie in jenem Moment. Und so begann ihre amour fou mit rohem Fleisch. Wenn gleichaltrige Mädchen sich stundenlang die Haare kämmten, rührte Rosemarie Blut bei Hausschlachtungen, als gebe es kein Morgen. Jedes Schwein und jedes Rind, das sein Leben ließ, ließ sein Leben, um Rosemarie Kraft zu geben, um Kätzchen zu retten. Mit jedem Bissen saugte sie die Stärke jener freundlichen Nutztiere in sich auf und, ja, bei Gott, sie liebte das Fleisch, und so hörte man sie, wenn sie ausgelassen durch die Straßen hüpfte, oftmals freudig exklamieren: „Wie ein Apfelbaum unter den Bäumen des Waldes, so ist mein Mettigel inmitten des Kalten Buffets. Ich habe mich mit Wonne in seinen Schatten gesetzt, und seine Frucht ist meinem Gaumen süß. Kommet heraus, Töchter Zions, und betrachtet den Mettigel! Denn Gehacktes ist mir Nektar und nie wieder will ich darben. Ganz schön bist du, mein Mettigel, und kein Makel ist an dir. Und ich …“
Ohh, ey, halt ’se fester!, dachte sich einjeder, der Rosemaries Geschwafel mehr als einmal ertragen musste, und auf mehr will der Autor dieses Texts, also ich, der Typ aus dem Treppenhaus, mit der Erwähnung dieses Märchens auch gar nicht hinaus, fertig, mag sein, dass ich mich ein wenig in die Situation hineingesteigert habe, aber ebenso wie die Rohemarie nervte, ohne ein einziges Kätzchen vor was auch immer zu retten, während sie rohes Fleisch en masse in ihr Gesichtsloch stopfte, nervte die Ex meines besten Kumpels, ohne auch nur ein Stück Möbel erfolgreich bewegt zu haben, während sie mir gekonnt im Weg stand, vor sich hinfaselte, und, na ja, wie auch immer, auf jeden Fall war mein Kamm geschwollen, weil, ja, wir spannen jetzt den Bogen zum anfänglichen Thema, Stichwort: Doppelmoral. Um also gegen eben jene Doppelmoral aktiv vorzugehen, schließe ich mit einem zwar nicht völlig schlüssigem, dafür aber von Herzen kommendem: Und die Moral von der Geschicht’, die gibt es nicht. Dreifuffzich, bitte.
Dieser Text stammt von meiner Hörbuch CD bis dahin (zeter & mordio, 2006)