In der Ferne braut sich etwas zusammen. Wir zupfen die Sommerhemden von unseren Körpern und setzen uns ins Gras am Ufer. Alles scheint so erfüllt von Leben, dass es jede Sekunde zu zerbersten droht. Eine Brise raut die Oberfläche des Sees auf, und für einen Augenblick scheint es, als sei es Gottes Atem, der dem Wasser eine Gänsehaut macht. Und wenn es einen Gott gibt, spiegelt er sich in jedem Halm, im Taumeln eines Schmetterlings, in dir, in mir und also endlos in sich selbst. Vielleicht haben wir auch nur zu viel Hesse gelesen.
Ob du Angst um deine Seele haben solltest, fragst du. Ich habe dir sofort angesehen, dass es kein Zufall gewesen ist, dass du mich hierher gebeten hast. In diesem See versenkst du seit jeher deine Unsicherheiten und Ängste, und mein Schweigen und Nicken sind das Blei, das sie auf den Grund zieht. Auf merkwürdige Weise liegt dein gesamtes Leben am Boden dieses Sees, in den wir als dumme Jungs Arschbomben gemacht haben.
Einmal mehr steht eine dieser einsamen Entscheidungen an, bei denen du auf meine Gesellschaft nicht verzichten willst. Wieder einmal ist dir eine Welt zerbrochen. Irgendwann hast du aufgehört, sie zu zählen. Aber jedes Mal ist es anders, sagst du. Manche splittern dir kreischend entgegen, so dass du gerade noch die Arme vor die Augen reißen kannst. Andere entgleiten dir aus Achtlosigkeit. Wieder andere zerbrechen langsam und du bemerkst erst nach Jahren, dass sie verloren sind. All diese Scherben zusammengekehrt und aneinandergefügt, welches Bild würde sich dir bieten? Was würdest du in diesem Mosaik aus unerfüllten Träumen, nie getroffenen Entscheidungen und zerstörten Hoffnungen finden?
Vor einigen Tagen ist dir ein altes Foto von uns in die Hände gefallen. Wir beide vor dem Kaninchenstall deiner Großeltern. Sofort sehe ich dich in das warme Nest greifen und die Jungtiere herausholen. Wie sie dann nackt und blind und zitternd auf den Waschbetonplatten im Kreis krochen, während wir danebenhockten und ihnen beim Sterben zusahen. Wir spürten ihr Leid und konnten nicht aufhören hinzusehen, denn wir spürten auch den Tod, der in uns wartet. In der Gegenwart des Todes bemerkten wir unsere Seele, und es tat weh. Seitdem wissen wir, dass es lebensnotwendig ist, die eigene Seele zu spüren. Dass es eine Grundvoraussetzung ist, um sich in dieser Welt begreifen zu können. Aber von Jahr zu Jahr spürst du sie weniger, sagst du, und das Foto war wie eine Flaschenpost aus der Vergangenheit, von der Zeit herangespült.
Ob du einer von denen geworden bist, fragst du, und sprichst von jenen Menschen, die verfangen in ihren Gewohnheiten, wie im Wachkoma dahindämmern. Jenen Menschen, die sich nicht bewusst sind, dass sie eine Seele besitzen; die nicht spüren, wie sie ihre Seele in Formen zwängen, in denen sie nicht atmen kann. Denn vielleicht haben unsere Seelen nicht die Form von provisionsfreien Eigentumswohnungen, sagst du, oder von neuwertigen Gebrauchtwagen oder Jobs mit Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Vielleicht haben sie die Form von Gischt, von Nähe oder vom Lächeln eines Fremden.
Solltest du zu einem von denen geworden sein, hat dich die Diagnose vor einigen Tagen offenbar wachgerüttelt. Und mich gleich mit.
Zum ersten Mal seit Jahren schaue ich dich wirklich an und bemerke, dass die Falten um deine Augen nicht verschwinden, wenn du zu lächeln aufhörst. Es gibt keinen nennenswerten Unterschied zwischen meinem Spiegelbild im See oder in einer Pfütze, aber es ist ein deutlicher Unterschied, ob ich mich in deinen oder in fremden Augen spiegele. Du gibst mir eine Tiefe, die ich gerne glaube, aber ich wirke blasser als noch vor Jahren. Stumm sinke ich neben dich ins Gras und höre ein fernes Donnergrollen.
Du magst es, wenn Dinge einen Anfang und ein Ende haben, sagst du, weil sie dadurch fassbar werden. Jetzt hast du einen überschaubaren Zeitrahmen. Aber du wünschst, du hättest dir jene Fragen nach deiner Seele rechtzeitig beantwortet. Du wusstest immer um ihre Existenz, nur nie etwas mit ihr anzufangen. Du hättest sie in die Hände eines Gottes legen, verschachern oder einer bestimmten Philosophie folgen können, aber stattdessen hast du sie am ausgestreckten Arm verhungern lassen. Würdest du dich jetzt, wo es nackte Angst ist, die dich treibt, entscheiden, kämst du dir wie ein winselnder Köter vor. Und einen Gott, der seine Seelen so billig verteilt und einsammelt, kannst du ohnehin nicht respektieren, sagst du. So einfach kann es nicht sein, oder?
Auf dem Rücken liegend blicken wir an den Gräsern empor. Über uns nichts als Himmel. Die Hand wird zum springenden Frosch, und auch die übrigen Wolken haben ihre Formen verändert. Schon als Kinder haben wir hier gelegen. Im Rauschen der Büsche. Auf feuchter Erde nach einem Sommergewitter. Die Erde roch damals anders und die Pfützen waren größer. Wie wir mit wehenden Haaren und ausgebreiteten Armen dem Wind entgegenschrien, er möge uns forttragen. „Nach Hause!“, riefen wir lachend, und lehnten uns auf Zehenspitzen gegen den Sturm.
Mit einem Mal ahne ich, dass wir wohl zeitlebens im Wind unserer Kindheit stehen und auf diese eine Böe warten, die uns heimwärts trägt. Wem willst du deine Seele anvertrauen? Ich werde sie nicht ewig tragen können. Solange es mir möglich ist, werde ich es tun, indem ich mich an sie erinnere und von ihr erzähle. Und dann? Wo willst du deine Seele geborgen wissen? Es ist allein deine Entscheidung. Noch bleibt dir Zeit, sie zu treffen. Und bis dahin, lehne ich mich mit dir gegen den Sturm.
Bearbeitete Version des Textes von meiner Hörbuch CD bis dahin (zeter & mordio, 2006)